Wie sich in den letzten Monaten gezeigt hat, zieht das eBook-Cover zu Glasseelen so gut wie gar nicht. Dementsprechend hat sich die Designerin Manuela Ancutici (Little Kunoichi) des Problems angenommen. Das Ergebnis ist einfach toll geworden 😀 Hier könnt ihr euch die Entwicklung des Covers ansehen, angefangen mit dem Cover von Bookshouse, über das Cover von Edition Roter Drache, bis hin zu Manuelas Cover:
- Cover, 2013, Layout von Bookshouse
- Cover 2017, Layout von Edition Roter Drache
- Cover 2019, Layout Manuela Ancutici
Dieses neue Bild gefällt mir einfach um längen besser als das x-te Frauengesicht. Der Roman ist düster, spielt unter Berlin und – klar – es geht um einen Frauenmörder, der den Damen die Augen rausschneidet. Aber das ist eben nicht alles. Es geht tief unter Berlin in die sogenannten Unterwelten, spielt in alten Bunkern und Kanälen, basiert auf E.T.A. Hoffmanns Nachtstück “Der Sandmann” und streift auch das Leben Hoffmanns. Allein deshalb war es mir wichtig, nnicht alles auf eine Frau zu reduzieren. Hier ein Ausschnitt aus dem 1. Kapitel:
Als sein Schädel auf dem Boden aufschlug und ein Rinnsal hellen Blutes um die Spitze ihres Turnschuhs lief, hörte die Welt für einen Moment auf zu atmen. Camilla starrte auf den Mann, der sich vor ihren Füßen zu Tode gestürzt hatte. Sein aufgedunsenes Gesicht verfärbte sich langsam blauviolett. Äderchen traten an Stirn und Schläfen hervor. Über seine halb offenen Lippen quollen Blut und Speichel, seine gebrochenen Glieder standen grotesk ab. Knochen stachen durch den Stoff von Jeans und T-Shirt.
Camilla hätte nie gedacht, dass jemand so wenig blutete, wenn er von einem Dach sprang. Sie betrachtete den Toten aus einer eigenartig fernen Perspektive. Als läge er nicht zerschmettert zu ihren Füßen, sondern als liefe ein Film vor ihr ab. Vielleicht lag es an der Stille, an diesem Fehlen jedweden Lautes.
Die Hände in den Taschen ihrer Jacke vergraben, die Finger um irgendetwas verkrampft, beobachtete sie, wie sein Blut unter ihre Schuhe rann und den Saum ihrer Cordhose durchtränkte. Erst nach einer Weile trat sie einen Schritt zur Seite. Trotzdem konnte sie den Blick nicht von dem Mann wenden. Seine toten Augen schienen in den wolkenlosen Sommerhimmel zu starren. In der intensive blauen Iris glitzerten Sonnenstrahlen. Etwas rollte aus den Fingern seiner linken Hand. Camilla fuhr zusammen. Eisige Kälte kroch ihre Wirbelsäule herauf und legte sich erstickend um ihr Herz.
Zwei blutige Kugeln, an denen feine, feuchte Nervenstränge hingen, blieben unweit der verdrehten Schulter neben seinem Gesicht liegen. Unter den klebrig roten Schlieren und dem Straßenschmutz stachen hellblaue Iris hervor.
Eine Woge Grauen überflutete Camilla und drohte, ihren Verstand mit sich zu reißen. Sie biss sich auf die Unterlippe und den Piercingring. Der kurze, stechende Schmerz half, die aufkommende Panik zu dämpfen.
Sie schluckte einen Kloß im Hals hinunter, dennoch blieb die Angst. Ihr Magen rebellierte, ihre Knie waren kaum noch in der Lage, sie zu halten.
Kontrolliert atmete sie ein und aus, bis der Boden unter ihren Füßen wieder stillstand. Etwas hatte sich verändert. Der Himmel spiegelte sich nicht mehr in den toten Augen. Sie wurden stumpf und verloren alle Farbe, bis sie wie graubraune Erdklumpen aussahen. Ein Stück bröckelte daraus ab.
Wie paralysiert fixierte Camilla die Steinklumpen in den Höhlen, die zu grauem Sand und Staub zerfielen. Wind kam auf und wehte ihn davon. Von einem Herzschlag auf den anderen erwachte die Welt um sie zu neuem Leben. Menschen schrien und rannten über den Museumsvorplatz. Der Straßenlärm überrollte Camilla mit unsäglicher Gewalt und in einer Geschwindigkeit, als raste die Zeit, um den verlorenen Takt wieder einzuholen.
Erschrocken presste Camilla die Hände gegen die Ohren. Theresa zuckte zusammen und umklammerte ihren Arm. Sie stöhnte lese auf. Camilla merkte, dass sie zu wanken begann. Unsicher taumelte Theresa und zog sie von dem Toten fort.
Sie stolperte zwei, drei Schritte rückwärts. Camilla konnte ihren Blick nicht von den blutigen Abdrücken ihrer Schuhsohlen lösen. Sie folgte den Spuren zurück zu der Leiche.
„Camilla!“, würgte Theresa hervor. Ihre Stimme klang viel zu hoch. Der schiere Anblick des Toten musste sie entsetzen. Zitternd vergrub sie ihr Gesicht an Camillas Hals. Ihr feuchtwarmer Atem fühlte sich unangenehm an. Dennoch umarmte Camilla sie fest und drückte sie an sich. Am Rande bemerkte sie, dass sich Schaulustige um sie sammelten. Einige drängten vor, suchten aber eilig das Weite, als sich entfernt Martinshörner in den Lärm der Umwelt mischten.
Camilla fokussierte den Mann immer wieder. Die zu Staub zerfallenen Augen konnte sie sich nur eingebildet haben. Erneut kroch Kälte in ihren Körper. Was für ein kranker Albtraum war das? Sie zwang sich, das Gesicht nicht länger anzustarren, doch ihre Aufmerksamkeit kehrte immer wieder zurück, registrierte jedes Detail. Seine Rechte hielt ein altes Fernrohr umklammert. Das Licht brach sich auf Okular und Messingelementen. Vergleichbare Objekte kannte sie von Steampunk-Veranstaltungen, aus Museen und Büchern, aber dieser Gegenstand löste eine eigenartige Empfindung von Erkennen aus. Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Es war ein Déjà-vu, verbunden mit dem Wunsch das Fernrohr an sich zu nehmen. Plötzlich fiel es Camilla schwer, nicht die Hand auszustrecken und danach zu greifen. Es war wie ein Zwang, erstickend und stark. Sie musste es haben! Für einen Moment zerriss der Schleier und die Wahrheit blitzte auf. Es war nur ein einziger kurzer Moment, zu schnell vorüber, um ihn zu ergreifen. Was zurückblieb, war nebulöse Leere, die sie nicht zu füllen in der Lage war.
Theresa riss sich von ihrer Seite los und begann zu würgen. Der letzte Rest des unheimlichen Banns brach. Hilflos hielt sie die Schultern ihrer Freundin umfasst, während diese sich übergab. Tränen rannen über Theresas Wangen und zogen feuchte Spuren über ihre bleiche Haut. Ihre außergewöhnlichen, zweifarbigen Augen wirkten entzündet und die schweren Lider verquollen. Sie zitterte am ganzen Leib. Feine Schweißperlen bedeckten ihre Haut und verklebten die kurzen blonden Haare auf ihrer Stirn. An den Lippen hingen noch Tropfen von Erbrochenem.
Keuchend knickte Theresas ein. Camilla konnte gerade noch zugreifen, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Sie stützte ihre zierliche Freundin und führte sie zu einer Bank, ließ sie Platz nehmen und suchte in ihrer Jacke nach Taschentüchern. Plötzlich erfasste sie ihre Umwelt wieder vollkommen rational. Ihr war sofort bewusst, was sie zuvor umklammert hatte: Taschentücher und Geldbörse. Rasch zog sie das Päckchen hervor. Der Geruch nach Säure und halb verdautem Frühstück stieg ihr in die Nase. Das Erbrochene war zu viel für ihren Magen. Sie versuchte, so wenig wie möglich zu atmen, als sie Theresa die Magensäuretropfen von den Lippen tupfte. Erneut würgte Theresa. Hoffentlich übergab sie sich kein zweites Mal. Der Geruch allein reichte aus, dass es Camilla übel wurde. Als sie das schmutzige Taschentuch ein Stück von sich auf den Boden warf, fing sie sich wieder. Sie ließ sich vor ihrer Freundin in die Hocke sinken und ergriff ihre Hände. Trotz der morgendlichen Julihitze fühlten sie sich an wie die einer Toten. Aus weit aufgerissenen Augen starrte Theresa durch sie hindurch. Der Anblick der blauen und der braunen Iris wirkte leicht verwirrend. Angst hatte sie dunkel gefärbt. Unwillkürlich fragte sich Camilla, was Theresa gesehen hatte. Das Gleiche wie sie?
Langsam kroch ein Hauch des Grauens in ihr Herz. Sie fror entsetzlich. Ihre Hände flatterten. Aber sie empfand nichts, es waren Theresas Gefühle, die sie in sich aufnahm. Sie fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem sie von all den Emotionen überschwemmt würde, die sie bislang erfolgreich verdrängte. Doch im Moment konnte sie nichts weiter tun, als für Theresa da zu sein und alle Stärke aufzubringen, zu der sie in der Lage war. Nur wie lange hielt sie das durch?
Jenseits der Spreegabelung und der Museumsbrücke hielten Krankenwagen und Polizei. Sanitäter mit Bahre und Zinksarg überquerten den Steg und kamen die Stufen herauf, während uniformierte Polizisten Schaulustige zur Seite trieben.
Camillas Gedanken kreisten um den Selbstmörder. Wer war er gewesen und warum war er gesprungen?
Ihr Blick schweifte über den Museumsvorplatz, über das ameisenartige Gewusel von Männern und Frauen in Uniformen und an der glatten Fassade hinauf. Von außen gab es keinen Weg hinauf. Wie war er also in das Gebäude gelangt … und von welcher Stelle war er gesprungen, um punktgenau vor ihren Füßen aufzuschlagen? Über dem Quader, der den Haupteingang bildete, gab es aus ihrer Perspektive keine Möglichkeit, das Dach zu betreten. Rechts und links neben den Seitenflügeln standen auch keine Scherenbühnen oder andere Hebeeinrichtungen. Möglicherweise irrte sie sich und er hatte den Sprung von ganz oben geschafft. Aber dann hätte er auf dem Vordach aufschlagen müssen, was ihm vermutlich schon das Genick gebrochen hätte und er gar nicht hier unten aufgeschlagen wäre. Sie legte den Kopf in den Nacken, um den pylonartigen Zentralflügel besser in Augenschein nehmen zu können. Es wäre vollkommen unmöglich gewesen, von dort in einem so weiten Bogen zu springen. Niemand überbrückte mehr als 10 Meter Tiefe, selbst wenn er geschleudert worden wäre. Theresa lehnte sich vertraut an sie. Ihre kleine Hand blieb auf Camillas Hüfte liegen. Sie brauchte dringend Zuwendung. Sacht streichelte Camilla über ihre Schulter und drückte sie fest an sich.
„Geht es dir besser?“, flüsterte sie. Theresa sah zu ihr und verzog gequält die Lippen. Langsam schüttelte sie den Kopf. In ihren Augen stand noch immer dieser tiefe Schrecken. Besorgt fuhr Camilla durch ihr strubbeliges Haar.
„Kann ich verstehen.“ Camilla fühlte nichts von dem Schrecken. Ihre Neugier war geweckt. War das nicht vollkommen irrsinnig? Warum dachte sie schon wieder über den Toten nach? Sie sah die Leiche an. Der arme Kerl begann ihr leidzutun. Trotzdem wollte sie wissen, wie er gestorben war und warum. Wie war er überhaupt vor der Öffnungszeit ins Museum gekommen? Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Wenn er Mitarbeiter des Museums war, wäre es erklärbar gewesen. Aber er trug weder Uniform noch Arbeitskleidung wie die Leute der Putzkolonne. Möglicherweise hatte er sich noch nicht umgezogen. Von den Fielmann-Mitarbeitern wusste sie, dass sie sich auch erst im Haus umzogen, bevor sie an die Arbeit gingen. Vielleicht war es bei ihm nicht anders. Sie biss sich auf die Lippe, zupfte an den trockenen Hautschüppchen um ihren Piercingring.
„Können wir verschwinden?“, flüsterte Theresa dicht neben ihrem Ohr, sodass ihr Atem auf der Haut kitzelte.
Mit einer Kopfbewegung zu den Einsatzfahrzeugen schüttelte Camilla den Kopf.
„Ich glaube, das können wir knicken.“
Schwer seufzte Theresa. „War mir klar.“ Sie schob ihre Arme um Camillas Taille und kroch halb unter ihre Jacke. Leise fügte sie hinzu: „Das werde ich nie mehr vergessen.“ Ihr Zittern nahm zu. Sanft umschlang Camilla sie und schmiegte ihre Wange in Theresas Haar. „Der Tote?“, fragte sie.
Trocken schluckte Theresa. „Auch, aber besonders dieses …“ Sie zuckte in Camillas Arm die Schultern, als sie keine Worte fand.
„Dieses was?“, hakte Camilla mit in Falten gelegter Stirn nach.
„Ich weiß nicht, wer oder was das war, aber nachdem der Körper aufgeschlagen ist, habe ich hochgeschaut und jemand da stehen sehn.“
Camilla ließ sie los und ergriff ihre Schultern. „Was?“
Offenbar hatte sie zu laut gesprochen, denn die Leute um sie herum schauten sich zu ihnen um. Theresas Blick glitt an Camilla vorbei zum Eingang. Sie schien immer noch etwas zu sehen, denn ihre Augen weiteten sich. Rasch wandte Camilla sich um und sah hinauf. Nichts … Was sah Theresa? Sie sah oft Dinge, die Camilla allenfalls spürte. Ihr rann ein Schauder über den Rücken. Steckte etwas Übernatürliches dahinter? Aufgeregte Nervosität rann durch ihre Glieder. Die morbiden Gedanken faszinierten sie ebenso sehr, wie sie ihr Angst einjagten. Wenn Theresa etwas gesehen hatte, waren die zu Sand zerfallen Augen des Toten keine Einbildung gewesen.
Und noch einmal ein Abschnitt weiter hinten, tief unter der Erde:
Hastig kramte Camilla ihr Handy heraus. Sie konnte um Hilfe telefonieren. Die Empfangsbalken waren ausgeblendet. Trocken schluckte sie. Das war es wohl … Nein, aufgeben kam nicht in Frage! Sie schaltete die Taschenlampe ein und sah sich um, ob es eine provisorische Waffe oder ein Versteck gab.
In hintereinander aufgereihten Regalen lagen Bettlaken, Bezüge und OP-Hemden, aber als Waffe konnte sie nichts davon nutzen. Ihr Mut sank.
Plötzlich schlug etwas unglaublich Schweres mit Schwung von außen gegen die Tür. Camilla fuhr zusammen. Grimm!, dachte sie. Aber die Wucht des Aufpralls hatte etwas von der Schwere eines Kleinwagens … Eiskalt rann es ihr den Rücken hinab. In dem Moment bemerkte sie etwas Metallenes, das verborgen hinter einem Regal lag.
Grimm rüttelte wie ein Irrer an der Klinke.
Camilla federte hinter die Wäscheberge und ging in Deckung. Scheinbar tobte er und behinderte sich selbst, denn er riss immer noch an der Tür, wodurch sie Zeit gewann. Sie betrachtete das, was sie gesehen hatte. Es war der rostige Griff an einer uralten Stahltür, deren Bänder mit gewaltigen Nieten versehen waren. Camilla tastete nach dem Knauf und zog daran. Es gab einen kurzen Ruck, dann klemmte die Tür. Camilla leuchtete hinab. Kratzspuren in den Kacheln bewiesen, dass sie nur mehr Kraft aufwenden musste. Sie schaltete die Taschenlampe ab und schob das Handy in die Hosentasche.
Mit beiden Händen und unter Einsatz ihres gesamten Gewichtes kratzte der Holm über den Boden, bis der Spalt groß genug war, um hindurch zu schlüpfen.
Klamme Kälte wehte ihr entgegen, der Geruch nach feuchtem, altem Stein, Moder und Fäulnis. Weit entfernt rauschte Wasser. Krallen von Ratten oder Mäusen schabten über den Boden.
Gewaltsam wurde die Tür zur Wäschekammer aufgestoßen.
Camilla wirbelte herum. Aus ihrer Deckung gewahrte sie Grimm im Gegenlicht des Flurs. Er wirkte noch monströser, als sie ihn in Erinnerung hatte. Hinter ihm tauchte ein zweiter, riesenhafter Mann auf, dessen schaufelartige Hände hinabpendelten und dessen Kopf unnatürlich deformiert war. Sie fuhr zusammen. Ihn hatte Theresa auf dem Museum stehen sehen, dessen war sie sicher. Ihr Herz hämmerte so hart, dass sie glaubte, Grimm oder das Ungeheuer könnten es hören. Aus der Kammer drangen Grunzlaute.
Renn! Sie sind dein Tod! Der Mann sprach wieder mit ihr, er war keine Einbildung!
So leise sie konnte schob sie sich an der Wand entlang von der Tür fort. Sie musste nur genug Strecke zwischen sich und diese Monster bringen, um die Taschenlampe wieder einschalten zu können. Nach einer Weile ging sie schneller, bis der Gang abknickte und die Stimmen zurückgefallen waren. Erst jetzt wagte sie nach ihrem Handy zu greifen.
Der Tunnel war grob gemauert und schloss sich dicht über ihrem Kopf in einem Tonnengewölbe. Staubige Spinnweben hingen von der Decke. In den Fugen der Ziegel hatten sich Schimmel und Moos gesammelt. Wassertröpfchen schimmerten in dem weißen Licht ihres Mobiltelefons. Kleine Schatten huschten vor ihr davon. Eine langbeinige Spinne zog sich dicht vor ihrem Gesicht wieder nach oben. Camilla erschrak kaum vor ihr.
Die Stimme in ihrem Kopf hatte sie hierher gelotst. Und nun? Kamen weitere Anweisungen, Hilfestellungen wenigstens?
„Wohin soll ich mich wenden?“, wisperte sie. Natürlich blieb jede Antwort aus.
Das konnte alles nicht wahr sein. Camilla betrachtete die Akku-Anzeige. Ewig würde sie das Licht nicht eingeschaltet lassen können. Diese App fraß Strom. Mit einer Hand strich sie sich die verschwitzten Haarsträhnen aus der Stirn. Dann musste sie selbst einen Weg nach oben suchen. Hoffentlich verlief sie sich nicht …
Sie schob den Gedanken von sich. Es war nicht gut, sich selbst in Panik zu versetzen. Mühsam rief sie sich zur Ordnung.
Während jeden Atemzugs rasselten Camillas Lungen, als wäre darin etwas kaputt gegangen. Staub und Schimmel in der Luft hinterließen einen widerlichen Geschmack auf ihrer Zunge. Sie fühlte sich elend und erschöpft, dennoch wäre es unklug gewesen, länger stehen zu bleiben.
Sie leuchtete in den Gang nach links und rechts. In beiden Richtungen sah er gleich aus.
In dem tiefen Staub auf dem Boden krabbelten Käfer von ihr fort. Sie überlegte, wohin sie sich wenden sollte, um wieder in die Freiheit zu gelangen, konnte es aber nicht sagen. Ihr Gefühl riet, sich links zu halten, um an anderer Stelle in die psychiatrische Klinik oder zumindest auf deren Gelände zurückzukommen. Wenn diese Tunnel nicht uralte Fluchttunnel waren, gehörten sie sicher zu Versorgungsschächten der älteren Häuser auf dem Gelände der Charité.
Sie schaltete die App aus und schob sich vorsichtig nah an der Wand entlang. Auch wenn sie sich ekelte, in Schimmel zu greifen oder eine Spinne auf der Hand sitzen zu haben, war es sicher. An der nächsten Abzweigung könnte sie das Display einschalten, vielleicht half das schon. Zumindest fraß es nicht so viel Akku.
Nach einer Zeit gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Von irgendwoher gelangte manchmal ein schwacher Lichtschimmer in die Gewölbe. Sie vermutete, dass es durch Kanaldeckel drang. Auch wenn sie nichts klar erkennen konnte, bemerkte sie doch andere Tunnel oder Schächte.
Ihre Atmung hatte sich wieder beruhigt. Zum ersten Mal merkte sie, wie schlecht ihr Körper trainiert war. Tägliches Radfahren und Joggen waren definitiv nicht ausreichend, wenn man um sein Leben rennen musste.
Sie versuchte, sich von den Ereignissen abzulenken, was ihr nicht gelang. Die sich in Sand zersetzenden Augen verfolgten sie immer wieder. Das in Kombination mit dem Artikelausschnitt und der Erzählung Theresas ergaben Fragmente eines Gesamtbildes, dass sie noch nicht wirklich erkennen konnte. Zumindest war Camilla sicher, sich die unheimlichen Ereignisse nicht eingebildet zu haben. Automatisch dachte sie an Grimm, der Theresa und sie bedrängt hatte. Vielleicht war er mit diesem Monster – wo immer der Zusammenhang zwischen den beiden Männern lag – immer noch hinter ihr her. Langsam manifestierte sich die Idee, dass er andere Möglichkeiten haben könnte, um sie zu beobachten. In ihrer Fantasie öffneten sich steinerne Lider in den Wänden, sobald sie eine Stelle passiert hatte, und Blicke folgten ihr. Sofort fühlte sie sich beobachtet. Sie kramte das Handy heraus und schaltete es ein, aber es war nichts zu sehen. Erleichtert schaltete sie es ab und atmete auf.
Leider hatte sich ihre Fantasie an der Vorstellung festgefressen. Wieder spürte sie Augen, die sie von hinten beobachteten. Die keimende Panik ließ sich kaum mehr versiegeln. Immer wieder hörte sie das Kratzen von Krallen im Staub vor und hinter sich, was weitaus lauter klang als Rattenfüßchen.
Plötzlich sah sie schemenhaft ein unförmiges Wesen mit breiten Schultern und pendelnden Armen. Das Ding hatte einen lächerlich kleinen, schmalen Schädel, seine schartigen Nägel kratzten über Stein. Grimms Begleiter. Sie schrie auf und machte ein paar Schritte zurück, fuhr herum und rannte ohne zu wissen wohin. Die Tunnel verzweigten sich. Camilla stolperte, prallte gegen Wände und strauchelte. Hinter ihr folgten dumpfe Schritte, die sich immer weiter verloren. Trotzdem hielt sie erst an, als die Schmerzen in ihren Lungen überhandnahmen. Schwindelig und atemlos taumelte sie gegen eine Wand und sank auf den schmutzigen Boden. Untere ihren Fingern spürte sie körnigen Dreck. Schwer stützte sie sich ab und ließ den Kopf nach vorne fallen. Ihr Herz schlug schwer und hart in der Brust, bis sie glaubte, an ihrer Angst zu ersticken.
Wenn sie je hier hinauskommen sollte, würde sie Berlin verlassen und nie wieder zurückkehren!
In Frankfurt waren keine Monster hinter ihr her. Das Unheimlichste, was ihr dort passieren konnte, waren aufdringliche Kerle, die sie nachts belästigten.
Mühsam rang sie nach Luft und schloss die Augen.
Selbst wenn sie lebend aus den Katakomben kam, konnte sie nicht weg. Nicht ohne Theresa. Was, wenn sie vor Stunden bereits Grimm in die Finger geraten war? So unheimlich er wirkte, er war auch Polizist, jemand, dem man vertrauen sollte.
Ihre Kehle zog sich schmerzhaft zusammen. Vielleicht hatte er Theresa erwischt. Erneut erschuf ihre Fantasie Visionen einer zerfleischten Leiche. Der Brustkasten war geöffnet und die Rippen nach außen gebrochen. Wo das Herz sein sollte, befand sich zerfetztes Gewebe in einem schmierigen Blutbrei. Dieser verdammte Artikel! Warum vermischte sich in ihrer Vorstellung das, was sie gelesen hatte mit dem, was ihr passiert war?
Um die Gedanken abzuschütteln, zwang sich Camilla auf die Füße und lief weiter, aber die Vorstellung ließ sie nicht mehr los. Sie trat in etwas Weiches, das sie mit dem Schuh zerdrückte. Fäulnisgeruch stieg auf und hüllte sie ein. Sie spürte, wie ihr Verstand in einer neuen Woge aus Panik erstickt wurde, und rannte los.
Eine gefühlte Ewigkeit später ließ sie sich erschöpft und verzweifelt gegen eine Wand sacken. Tränen liefen über ihre Wangen. Ihre Lungen schmerzten, als hätte sie Säure geatmet. Ihr Hals fühlte sich trocken an, schlucken konnte sie nicht mehr richtig. Sie spürte jede Schürfwunde und jeden blauen Fleck an ihrem Körper. Schwach erinnerte sie sich, während ihrer blinden Flucht unzählige Male gestürzt zu sein. Bei irgendeiner Gelegenheit hatte sie sich den Fuß verdreht und konnte nun nur noch leicht auftreten.
Sie hatte sich vollkommen verlaufen. Camilla wusste, dass sie etliche Male abgebogen, Treppen hinuntergestürzt und auf Stegen oberhalb der Abwasserkanäle entlanggelaufen war. Den Weg zurück würde sie niemals finden. Vermutlich war sie Kilometer von der Klinik entfernt – oder, was schlimmer war – im Kreis gelaufen.
Nach einigen Minuten, die sie brauchte, um sich etwas zu fangen, richtete sie sich auf. Erneut schaltete sie das Mobiltelefon ein. Auf dem Display las sie die Uhrzeit ab. Es war bereits halb zehn Uhr morgens. Darüber nachzudenken, wie viele Stunden sie sinnlos herumgeirrt war, war entmutigend. Wenn sie nur bei Weißhaupt gewartet hätte, nicht weggelaufen und bei Frau Wallraf geblieben wäre, hätte sie so viel mehr ausrichten können. Ihre immer wieder aufkeimende Panik begann sich in brennende Wut zu wandeln. In ihrem Magen sammelte sich Hitze und begann hoch zu kochen. Camilla trat gegen die Wand, so dass Dreck herab rieselte. Warum hatte sie sich so von ihren Gefühlen treiben lassen? Die Konsequenz aus ihrer Hysterie konnte sie sich bildlich vorstellen: Weißhaupt suchte nun nicht mehr ein Mädchen, sondern zwei. Sicher hatte der Kommissar seinen Morgen anders verplant. Camilla wollte sich gar nicht vorstellen, welch massiver Polizeiaufwand hierbei betrieben wurde und passierte, wenn ihre Eltern davon erfuhren. Selbst ihr gutmütiger Vater brachte dafür sicher keinen Humor auf. Eigentlich gab es für Camilla nur noch eine Bedrohung – sich vollkommen verirrt zu haben. Sobald sie an der Oberfläche war, musste sie mit dem Kommissar telefonieren und sich mit ihm offen und ehrlich unterhalten. Wahrscheinlich lachte er sie aus, aber wenn ihm wenigstens Teile ihrer Aussage halfen Theresa zu finden, war das schon mehr, als sie hier unten erreicht hatte. Camilla straffte sich und schaltete erneut die Taschenlampe ein. Boden und Wände bestanden aus nacktem Beton, anders als zuvor. Sie erinnerte sich an gemauerte Tunnel. Also war sie nicht im Kreis gelaufen, sondern an einen anderen Ort gelangt. Nervöse Neugier erwachte. Sie leuchtete nach unten. Ein dünnes Rinnsal floss dicht neben ihr entlang. In einiger Entfernung tropfte Wasser herab, das Geräusch hallte mehrfach gebrochen nach. In der Luft tanzte Staub. Irgendwo vor ihr schien sich der Gang zu öffnen. Sie humpelte etwas schneller und schaltete das Licht aus, bis sich ihr leises Keuchen in weitem Raum verlor. Kurz leuchtete sie in die Halle. Hier war alles viel größer und höher. Der Akku gab einen Warnton von sich. Warum ausgerechnet jetzt? Camilla stöhnte leise, beendete aber die App.
Vor irgendwoher wehte kühle Luft den süßlich fauligen Gestank eines toten Tieres heran. Camilla erschauerte. Dieser Ort atmete vollkommene Leblosigkeit aus.
Vorsichtig humpelte sie weiter. Der Wiederhall ihrer Schritte begannen ihr Angst zu machen. In dieser Weite konnte sich alles Mögliche verbergen. Wenn es nicht Grimm und sein unheimlicher Begleiter waren, so vielleicht der Sandmann …
Schaudernd schüttelte sie den Gedanken ab.
Immer wieder hörte sie leises Rascheln von feinen Klauen auf dem Beton: die allgegenwärtigen Mäuse und Ratten.
Die Echos veränderten sich, sie klangen dumpfer und hohler.
Camilla blieb stehen und leuchtete um sich. Im gleichen Moment zuckte sie zusammen und stolperte einen Schritt zurück. Vor ihr gähnte ein quadratisches Loch im Boden. Gegenüber erkannte sie Stufen, die hinab führten. Wer immer diesen Tunnel gebaut hatte, musste die Arbeiten eingestellt haben. Alles wirkte unfertig.
Camilla umging das Loch und sah sich um, solang der Akku noch mitspielte. Säulen stützten die Betondecke und der Gang öffnete sich in eine Halle. Anhand der Gräben folgerte sie, dass das wohl irgendwann eine U-Bahn-Station werden sollte. Als sie näher an die Kante trat, sah sie allerdings keine Schienenstränge.
Das Gefühl von Einsamkeit und Leere wuchs.
Hier musste es doch einen Aufgang geben. Camilla drängte ihre Furcht zurück und ging langsam den Bahnsteig entlang. Sie spähte hinter alle Säulen und in jeden Alkoven.
Der Akku leerte sich bedenklich. Sie wollte nicht daran denken, dass sie bald völlig blind weitergehen musste, wenn kein Wunder geschah.
Plötzlich kroch ihr der Geruch nach Blut in die Nase. Ihr Atem stockte. Beinah glaubte sie, sich übergeben zu müssen. So schnell sie mit ihrem verletzten Fuß konnte, schritt sie aus, einem kühlen Luftzug entgegen. Vielleicht war sie gleich in Freiheit.
In einiger Entfernung gewahrte sie einen Lichtschimmer und einen Durchgang, aus dem Papierfetzen in die Halle getrieben wurden. Ein Pappbecher rollte hin und her. Endlich hatte sie einen Ausgang erreicht! Sonnenschein malte bewegte Muster auf den zugemüllten Boden. Camilla rannte los. Ihr Fußgelenk schmerzte höllisch, aber sie ignorierte es.
Als sie in den Schacht stolperte und nach oben sah, schlug Enttäuschung wie eine Woge über ihr zusammen. Die Sonne stand hoch am Himmel. Camilla hörte Motorengeräusche. Ein paar Vögel kreisten über der Öffnung, aber all das schien mindestens 10 Meter entfernt und den nackten Beton konnte sie nicht erklimmen. Sie knirschte mit den Zähnen und sackte mit dem Rücken gegen die Schachtwand. Zeitungspapier raschelte, wehte auf und enthüllte dicht neben ihr einen nackten Fuß. Camilla fuhr zusammen und rang nach Atem. Der Blutgeruch … War jemand abgestürzt?
Sie zitterte, als sie in die Hocke ging. Ihr Fuß schmerzte unter der Belastung. Mit einer Hand stützte sie sich ab, während sie in der anderen ihr Handy umklammerte. Wiederwillig kroch sie näher. Über dem Körper lag grauer, mit Farbflecken und Mörtel verschmutzter Bauvlies. Zufall?, dachte sie. Sicher nicht. Auf Camillas Armen bildete sich Gänsehaut. Eigentlich wollte sie nicht sehen, was unter der Decke lag. Sie presste die Lippen aufeinander. Mit einem Ruck zog sie daran. Den grauenhaft entstellten, nackten Körper erkannte sie augenblicklich: Theresa! Camilla krallte die Nägel in das Vlies.
Jemand hatte ihren Brustkorb aufgerissen. Rund um die furchtbare Wunde war die bleiche Haut von Dreck, Schürfwunden und trocknendem Blut verkrustet. Einer ihrer schlanken Arme stach in seltsamem Winkel vom Körper ab, während der andere das Gesicht wie zum Schutz bedeckte. Camilla würgte.
Um ihre Brust zogen sich Stahlringe zusammen. Der Mensch, den sie am meisten auf der Welt liebte, den sie retten und beschützen wollte, war tot. Camillas Atem beschleunigte sich. Tränen schossen in ihre Augen, begleitet von scharfen Stichen in den Nebenhöhlen. Ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Der Boden schien unter ihr aufzureißen. Kalte Hoffnungslosigkeit mischte sich mit glühendem Schmerz. Die Leere, die in ihr lauerte, begann einen dunklen Sog zu entwickeln.
Warum verdammt, waren sie nur hierhergekommen? Theresas Tod war ihre Schuld!
Camilla presste zwei Finger gegen die Nasenwurzel. Es war keinem geholfen, wenn sie den Gedanken zuließ und sich darin verlor. Aus Verzweiflung gab es keinen Ausweg. Theresa war umgebracht worden. Camilla stemmte sich hoch. Vielleicht konnte sie von hier die Polizei rufen. Der Akku gab Signale, dass er fast leer war und das Display zeigte an, dass sie immer noch keinen Empfang hatte.
In Camilla schlug der Schmerz zu hilfloser Wut um. Heftig trat sie gegen die Wand.
„Hey!“, brüllte sie hinauf. „Hört mich jemand?!“ Ihre Stimme überschlug sich und brach. Die Trockenheit in ihrem Mund machte es ihr schwer. Dennoch legte sie den Kopf in den Nacken. „Ich brauche Hilfe!“ Die Worte klangen laut, fremd, rau, brachen im Schacht und verwehten unter dem Verkehrslärm zur Unkenntlichkeit. „Hey!“ In ihrer Kehle brannte es. Der Schrei zerbrach in heiseres Krächzen. „Hört mich denn keiner? HILFE!“
Jede Antwort blieb aus. Der Verkehr verlangsamte sich nicht, blieb nicht stehen. Wie konnte angesichts eines Todes nicht die ganze Welt verharren, lauschen und reagieren?
Camilla wartete, starrte, bis ihr Nacken weh tat und die Tränen ihre Sicht endgültig verschleierten. Sie sank auf die Knie, strich über Theresas Arm und ihr blutverkrustetes Haar. Sie weinte, bis sie kein bisschen Feuchtigkeit mehr aus ihren Augen rann und ihre aufgerissenen Wunden betäubt erschienen. Träge blinzelte sie und schob Theresas Arm von ihrem Gesicht.
Der Anblick war kaum weniger entsetzlich als der aufgerissene Brustkorb. Schreiend sprang sie auf. Beim Zurücktaumeln verfolgten die leeren Augenhöhlen sie und das zerschnittene Gesicht, in dem kurze, blonde Strähnen klebten.